Du musst nur entscheiden, was Du mit der Zeit anfangen willst, die Dir gegeben ist ...
Optimiert für IE8.x und FF3.x
Auflösung mind. 1024*768 Pixel
Thüringer Klöße, sie spielten in der Vorweihnachtszeit eine wichtige Rolle in einem Spektakel, das im Hause von Onkel Ben und Tante Lisa, der jüngsten Schwester unserer Mutter, stattfand. Jedes Jahr am St. Martinstag wurden Tante Lisas Mutter - unsere Großmutter, unsere Eltern und wir drei Kinder zum Gänsebratenessen eingeladen. Kaum hatten wir die Einladung erhalten, wurde von nichts anderem mehr gesprochen, sogar unsere Eltern ergingen sich in tollen Vermutungen über den Verlauf des Festes. Allein unsere Großmutter, die bis zu ihrem Tode mit uns zusammenlebte, verachtete, ja hasste diese, wie sie es nannte „unbeherrschte Demonstration primitivster Rechthaberei“.
Die Gänseleiche spielte bei diesem Ereignis die Hauptrolle, aber wichtigstes Requisit waren die Thüringer Klöße. Schimmernd wie Alabaster, von feinkörniger Struktur wie Lübecker Marzipan, durften sie niemals mit dem Messer geschnitten, nur aufgerissen werden, um danach einen Duft zu verströmen, der in seiner Zartheit die Anwesenheit eines Engels vermuten ließ. Die von ihnen umhüllten, in Butter goldbraun gerösteten Semmelwürfel durften auf gar keinen Fall Feuchtigkeit aufgenommen haben.
Ich erinnere mich nicht mehr an all die köstlichen Eigenschaften, die ein Thüringer Kloß haben musste. Onkel Ben konnte sie stundenlang aufzählen. Er war Experte für Thüringer Klöße. Vor seiner Ehe hatte er eine Beziehung zu einer Marie, die eine Meisterin der Kloßherstellung war. Nach seinen schwärmerischen Schilderungen besaß sie noch andere wunderbare Fähigkeiten, Tante Lisa nannte sie aber immer nur mit gehässigem Gesichtsausdruck „der Kloß“.
Das Gänsefest beginnt in aller Herrgottsfrühe. In der engen Küche wird Rotkraut geraspelt, die Gans ausgenommen, gefüllt und vernäht, für die Klöße werden die Kartoffeln handverlesen, gewaschen und geschält, danach auf einer Metallreibe gerieben, was natürlich zu Verletzungen führt, aber nach Ansicht von Onkel Ben sorgt ein Tröpfchen Menschenblut erst für die rechte Würze. Großmutter, die an diesem Tag ihrer Tochter Lisa zur Hand geht, überwacht die Gans, ist zuständig für das Abschmecken der Füllung und das Gelingen der Knusperpelle. Tante Lisa übernimmt die anspruchsvolle Aufgabe der Kloßbereitung. Die geriebene Masse muss in einer flachen Schüssel einen Teil ihrer Flüssigkeit abgeben, welche immer wieder abgefüllt und durch ein feines Tuch gefiltert wird; die so gewonnene Kartoffelstärke kommt zum Schluss wieder zum Teig. In der Wohnung verbreitet sich köstlicher Duft. Lange bevor die Klöße geformt sind, liegt die Gans schon in der Röhre, in der Pfanne brutzeln Weißbrotwürfel in Butter, nur in ständiger Bewegung erlangen sie ihr makelloses Gold.
Onkel Ben hält sich aus diesen Vorbereitungen heraus. Er ist der große Sachverständige, der Richter, der zu Beginn des Mahls sein Urteil verkünden wird. Die Spannung wächst, wir Kinder versuchen von den gerösteten Brotwürfeln zu naschen, werden aus der Küche gejagt und schließlich aufgefordert, den Tisch zu decken. Zur Feier des Tages gibt es gestärkte Stoffservietten, mitten auf dem Tisch, neben dem Rechaud für die Gans liegt das Tranchierbesteck mit den Hirschhorngriffen.
Endlich ist es so weit. Die Gans und das Rotkraut werden herein getragen. Tante Lisa erscheint mit den Klößen, ihr Gesicht glüht, Kloßteig klebt im Haar, sie lacht aufgeregt. Wir Kinder wagen kaum zu atmen. Onkel Ben schaut ernst. Tante Lisa legt ihm einen Kloß behutsam auf den Teller. Er lächelt ihr aufmunternd zu, wie ein gütiger Lehrer seinem Prüfling beim Examen Mut zulächelt. Totenstille. Bedächtig greift er zum Besteck, setzt es sacht auf den Scheitelpunkt des Kloßes und reißt diesen mit einer eleganten, synchronen Bewegung von Messer und Gabel exakt in zwei Hälften. Er beugt sich vor und saugt mit geblähten Nüstern den Duft ein. Breitet sich jetzt ein wonniges Lächeln über sein Gesicht, dann ist die erste Stufe der Prüfung bestanden. Aber noch ist nichts gewonnen. Als nächstes wird der Knuspergrad des gerösteten Brotes begutachtet. Ein Würfelchen wird vorsichtig aus seinem dunklen Nest gehoben, von allen Seiten betrachtet und langsam zwischen den Schneidezähnen zermahlen. Häufig endet bereits bei dieser Probe alles Wohlwollen und das Elend nimmt seinen Lauf. Aber es gab auch Fälle, in denen die dritte, die höchste Stufe der Qualitätskontrolle erreicht wurde. Ein kleines Stück des Kloßkörpers wird mit der Gabel abgestochen und gegen das Licht gehalten. Geprüft werden Transparenz der durch das Kochen glasig gewordenen Kartoffelfasern, der Seidenschimmer der Oberfläche und das ausgewogene Verhältnis zwischen Saftigkeit und Mürbheit. Konstatiert Onkel Ben jetzt: „klietschig“, dann ist der Krieg erklärt. Obwohl er sein vernichtendes Urteil mit tiefer Trauer in der Stimme verkündet, sein Blick größtes Mitgefühl, ja sogar einen Ansatz von Verzeihen signalisiert, ist Tante Lisa nicht mehr zu bremsen. Die Schüssel mit den Klößen in der linken Hand greift sie in die dampfende Masse und schleudert einen Kloß in seine Richtung. Eben noch Herr der Situation wird Onkel Ben zum Gejagten. Die Zielsicherheit der Tante steigert sich von Kloß zu Kloß, bei jedem Wurf wiegt sie sich leicht in den Knien und schleudert die kochendheißen Kugeln wie eine Speerwerferin hoch aus der Schulter auf ihr Opfer. Ihre Rache ist erst nach einem Volltreffer befriedigt. Danach kehrt Stille ein. Unsere Großmutter nimmt die Schüssel an sich, verschwindet in der Küche und kommt mit einer neuen Ladung Klöße zurück. Mit zusammengepressten Lippen knallt sie diese auf den Tisch. Onkel Ben, gezeichnet von Kloßteig, zerteilt die Gans, Tante Lisa tupft mit einer Serviette die Stirn.
Das Adventessen beginnt.
Zitat 3(228):Erfahrungen vererben sich nicht - jeder muß sie allein machen.
Kurt Tucholsky
© pieces-of-poetry.com