Du musst nur entscheiden, was Du mit der Zeit anfangen willst, die Dir gegeben ist ...
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Müde streift Inge die Armbänder ab, das metallische Klirren auf der Glasplatte des Badezimmerregals lässt sie frösteln. Warum kann sie jetzt nicht weinen? Heute in der Kirche musste sie beim Anblick des hübschen Paares vor dem Altar alle Kraft aufbieten, um die Tränen zurückzuhalten. Walters liebevoller Druck auf ihren Arm hat alles nur noch verschlimmert. Hätte er verstanden, was sie empfand? Er war einfach nur erleichtert, dass nun auch das jüngste seiner Kinder endlich in festen Händen ist. Auch jetzt drang durch die geschlossene Tür sein unmusikalisches Pfeifen. Es sollte wohl der Hochzeitsmarsch sein. Mein Gott! Wie unbedarft ist dieser Mann! Wenn alles nur seine Ordnung hat, dann ist man einfach zufrieden. Oder gar glücklich?
Erschöpft setzt sich Inge auf den Badewannenrand. Der Mosaikfußboden unter ihren Füßen entführt sie in die Vergangenheit. Sie hatte diese Art Mosaik in dem Hotel in Venedig auf ihrer Hochzeitsreise bewundert und Walter hatte ihr zum ersten Hochzeitstag ein ähnliches ins Badezimmer legen lassen. Wie gerührt sie damals war. Wie er sich immer um sie bemüht hat. Hat ihr sogar verziehen, dass sie für seine Mutter nicht immer das nötige Verständnis hatte. Seine Mutter, die nicht verstand, warum Walter nun nicht mehr jedes Wochenende bei ihr vorbeikam, dass sie keine Hemden mehr für ihn aussuchen und keine kleinen Überraschungen in seine Wohnung bringen durfte. Fassungslos hatte sie Inge angestarrt, als diese ihr untersagte, Walters Unterwäsche schön ordentlich zu falten. Ich wollte mich doch nur nützlich machen, hatte sie geschluchzt, du hast doch so viel zu tun. Inge erinnert sich nicht, was sie darauf geantwortet hat, nur dass Walters Mutter vorzeitig ihren Besuch abgebrochen hatte. Walter war traurig, wollte sie zum Bleiben überreden, aber Inge hatte gelacht und gesagt: Ach, Walterchen, deine Mutter freut sich doch auf ihr gemütliches Zuhause. Sie hatte ihre Schwiegermutter flüchtig auf die Wange geküsst und als die beiden abfuhren, hatte sie ihnen erleichtert aus dem Fenster nachgeschaut. Sie war voller Verachtung für diese Frau. Eine von den Müttern, die ihren Sohn als Eigentum betrachten, die wie eine Glucke um ihn herumgackern, ihn am liebsten noch mit 30 in Windeln packen wollten. Einmal hatte sie etwas Derartiges zu Walter gesagt, der hatte aber nur gelacht und gemeint, sie sei ja eifersüchtig. Lachhaft! Sie konnte einfach kein Verständnis für einen Menschen aufbringen, der nicht erkennen will, dass ein Abschnitt in seinem Leben abgeschlossen ist, der nicht den Verstand hat, zu begreifen, dass das Leben nicht stehen bleibt. Sie konnte nicht einmal Mitleid mit ihr empfinden. Natürlich, sie hatte es nicht leicht gehabt. Früh verwitwet, mit der kleinen Pension, immer gezwungen Geld zu verdienen. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, das gab es damals noch nicht. Walter hatte einmal behauptet, seine Mutter wäre auch viel zu stolz gewesen, so etwas in Anspruch zu nehmen. Die Avancen des Leiters einer chemischen Reinigung hatte sie ausgeschlagen, weil Walter ihn nicht mochte. Aber wahrscheinlich war Mister Clean doch nicht ganz ihr Typ gewesen. Nur durfte sie daraus keine Ansprüche an Walter ableiten. Nie widersprach sie seinem schlechten Gewissen. Im Gegenteil, schürte es noch. Auf Inges Frage, warum sie denn nicht einmal eigene Ansprüche geltend gemacht hätte, sie wäre doch noch jung und lebendig gewesen, hat sie erstaunt behauptet, Walterchen wäre doch das Wichtigste in ihrem Leben gewesen. Walter haben solche Geständnisse seiner Mutter immer mächtig mitgenommen. Es kam vor, dass er aufstand, sie umarmte und „liebe Mami“ murmelte. Beide hatten dann feuchte Augen. In solchen Momenten hoffte Inge auf die Richtigkeit der Behauptung, dass liebevolle Söhne auch liebevolle Ehemänner sind. Ja, Walter ist liebevoll - und schwach. Nie schlägt er mit der Faust auf den Tisch, nie fordert er. Wie anders ist da Jens. Schon seine Geburt war eine Herausforderung. Es fühlte sich an, wie ein Vulkanausbruch und genauso hat er sich dann auch in die Welt hinausexplodiert. Die Hebamme meinte lakonisch: „Na, mit dem werden sie noch einiges erleben.“ Nach den pflegeleichten Zwillingen wäre das ja mal eine Abwechslung. So dachte jedenfalls Inge, als sie diesen kleinen Mann vor sich liegen sah. Die Fäustchen geballt, das winzige Kinn vorgestreckt, schien er feste Pläne für die Zukunft zu haben. Vom ersten Tag an waren Inge und Jens unzertrennlich, sie machte keinen Schritt ohne ihn. Falls Walter eifersüchtig war, so zeigte er es nicht. Beruflich stark eingespannt war er sicher froh, dass Inge beschäftigt war. Das innige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn überstand alle Lebensstürme: schlechte Zeugnisse, den Fußball im Nachbarsfenster, die geklaute CD im Musikladen, die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn. Oft saßen die beiden bis spät nach Mitternacht und erzählten. Glückliche Stunden in Inges Leben. Das alles fand ein jähes Ende, als Jens sich zum ersten Mal verliebte. Inge bekam fast einen hysterischen Anfall, als sie morgens beim Wecken neben ihm dieses blonde Püppchen liegen sah. Mein Gott, der Junge war doch erst 17! Walter fand nichts dabei, versuchte sogar mit dem Flittchen zu flirten. Danach wechselten die Freundinnen in immer kürzeren Abständen. Inge war beruhigt. Sie genoss es, wenn Jens Witzchen über seine Verflossenen machte.
Ja, und dann stand er mit dieser Verena im Wohnzimmer, wirkte nervös, offiziell. Er wolle ihnen jemanden vorstellen. Danach ging alles holterdiepolter. Die beiden zogen zusammen. Inge bekam Wohnungsverbot. Jens 30.ten Geburtstag richtete Verena aus, Inge und Walter waren nicht eingeladen. Der endgültige Schlusspunkt war die kirchliche Trauung. Verena hatte ihn fest in ihren Krallen.
Walter klopft an die Badezimmertür: Alles in Ordnung? Inge springt auf. Sie will nicht, dass Walter ihr Elend mitbekommt. Schnell ein bisschen Rouge. Aus dem Spiegel starrt sie ein bleiches Gesicht an, das Gesicht ihrer Schwiegermutter.
Zitat 182(228):Der Bankraub ist eine Initiative von Dilettanten. Wahre Profis gründen eine Bank.
Bertolt Brecht
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