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Leitsatz

Spacer Du musst nur entscheiden, was Du mit der Zeit anfangen willst, die Dir gegeben ist ...
Zitat aus Herr der Ringe

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Eine Reise mit den sowjetischen Eisenbahnen

© Copyright 2003--2015 by Kristin Diewitz, Germany

Ende der achtziger Jahre klafft ein Spalt im Eisernen Vorhang. Heraus schaut eine perestroikakranke Sowjetunion voller Sehnsucht nach Demo-kratie. Den Westen, besonders die Bundesrepublik, drängt es zu missio-nieren. Expertengruppen zum Thema Marktwirtschaft werden zusammen-gestellt und es beginnt eine rege Reisetätigkeit. Für mich als Dolmetscherin eine wundervolle Möglichkeit, außer den Städten Moskau und Leningrad nun auch andere Regionen dieses riesigen Landes kennenzulernen.

Eine der ersten Reisen dieser Art führt nach Voronezh, einem Industriezentrum ca. 700 km südlich von Moskau. Die Gruppe, die ich begleite, besteht aus 3 Fachleuten zu Fragen der sozialen Sicherung der Bevölkerung. Mit dem Flugzeug geht es nach Moskau, dort haben wir eine Besprechung im Ministerium für Arbeit und soziale Ordnung und am Abend bringt man uns zum Kiever Bahnhof, von dem aus die Züge nach Süden abfahren. Hier herrscht ein fürchterliches Gedränge und Durcheinander. Entlang der Wände in den Wartehallen und den langen Gängen sitzen und liegen Menschen jeden Alters auf ihrem Gepäck, meist Kisten oder Pappkartons, und warten auf ihren Zug; alle paar Meter steht eine alte Babuschka und hofft auf Käufer für selbstgebackene Piroggen, einzelne Zigaretten, Brot oder Getränke. Aus Lautsprechern dröhnen vollkommen unverständliche Ansagen unterbrochen von Marschmusik. Wir sind froh, dass uns ein Mitarbeiter des Arbeitsministeriums zum Zug begleitet. Er kennt sich aus, weiß, dass man sich gewaltsam durch die eng zusammen-gedrängten Passagiere quetschen muss, die auf dem Bahnsteig vor den Eingängen in jeden Waggon einen dichten Menschenklumpen bilden. Man hofft beim Zugbegleiter noch einen Platz für Dollars zu ergattern, Fahrkarten sind nur gegen Aufgeld und über Beziehungen zu bekommen.

Endlich sind wir und unser Gepäck im Wagen. Eine wasserstoffblonde Mittdreißigerin, ein Namensschildchen auf ihrem üppigen Busen weist sie als Olga Invanovna aus, begleitet uns zu unserem Abteil. Mit dem Versprechen: gleich bringe ich Betttücher und später Tee und der Warnung: Türen immer verschließen und kein Gepäck auf dem Flur stehen lassen, eilt sie zurück zum Eingang, der während ihrer Abwesenheit von einem stämmigen jungen Mann bewacht wird. Er hat die Aufgabe, während der Fahrt für Ordnung zu sorgen, immer wieder in der Nacht ist seine drohende Stimme zu hören.
Pünktlich um 21 Uhr 30 geht ein scharfer Ruck durch den Zug, mehrere Pfeifsignale gellen schrill und wir setzen uns in Bewegung. Bald erscheint auch Olga Ivanovna mit der Bettwäsche. Sie weiß, dass wir Ausländer sind und behandelt uns besonders zuvorkommend. Bei jedem Lächeln blitzt ihr goldverkronter linker kleiner Scheidezahn wie ein Sonnenstrahl. Sie ver-schwindet, um gleich darauf mit einem Tablett mit Teegläsern zurück-zukommen. Wir sind die ersten Westler, die sie auf einer Reise betreut. Alles interessiert sie: woher, wohin, was wir in der SU wollen, ob wir etwas zu verkaufen hätten. Sie würde sicher gern noch lange mit uns plaudern, wäre da nicht das ständige Klopfen an der Tür und die Forderung der anderen Mitreisenden nach Tee.

Der Zug hat in der Zwischenzeit Geschwindigkeit aufgenommen und schlingert auf den desolaten Schienen, dass einem Angst und Bange werden kann. Diese Schleuderfahrt wird noch durch rhythmische Luftsprünge verschärft, jedesmal wenn die schlecht gefederten Räder auf den viel zu großen Abstand zwischen den einzelnen Gleisstücken aufprallen. Dazu ertönt aus dem Lautsprecher im Gang die in Russland so beliebte Estradnaya Musika, eine Art Schlager mit Folkloreeinschlüssen, meist zum Thema unglückliche Liebe und Entsagung. Die Reisenden haben es sich bequem gemacht, die Herren in Unterhemd und Jogginghose rauchen ihr erstes Zigarettchen im Gang, die Damen tragen den beliebten Sarafan, eine Art Küchenkittel, die Füße stecken in bequemen Pantoffeln. Alle Abteiltüren stehen weit offen, auch wir halten uns nicht an Olga Ivanovnas Warnung. Obwohl erst Mitte September, strömt aus den Heizungsschächten unterhalb der Bänke Heißluft, man kann kaum atmen und die Fenster lassen sich nicht öffnen. Aus den Nachbarabteilen sind laute Stimmen zu hören. In Russland liebt man die Geselligkeit, jede Gelegenheit miteinander zu essen, zu trinken und später dann zu singen wird genutzt. Eine 11-stündige Reise ist natürlich die ideale Gelegenheit dazu. So dauert es denn auch nicht lange und es ertönt fröhliches Gläserklingen unterbrochen von pathetischen Trink-sprüchen, einem Muss bei jedem feuchtfröhlichen Beisammensein, denn wer ohne eine kleine Rede trinkt, ist ein Säufer. Auch gegessen wird reichlich, gern kräftig mit Knoblauch gewürzte Buletten und Salzgurken, so dass uns bald der wundersame Duft russischer Kulinarie umweht. Man hatte uns vor unserer Abfahrt im Ministerium zum Essen eingeladen, deshalb haben wir uns kein Reiseproviant besorgt. Uns ist noch ein wenig schlecht von der Fischsülze. Stör in Gelee ist ein Gericht, das jeden Russen zum Schwärmen bringt, ich habe allerdings noch keinen Nicht-Russen kennengelernt, der diese Speise zu schätzen gewußt hätte. Der fad schmeckende, gekochte Fisch ist von einer Hülle aus trübem geliertem Kochwasser, in dem er ohne Gewürzzugaben gegart wurde, umgeben. Um die liebenswürdigen Gastgeber nicht zu kränken, haben wir nichts auf den Tellern liegenlassen, aber in Russland wird der Gast bedient, kaum ist der Teller leer, wird nachgelegt.

Gegen 23 Uhr schlafen die Kinder endlich, die Erwachsenen stehen im Gang, plaudern und trinken noch ein wenig miteinander. Ein älterer Herr, er stellt sich als Lehrer aus Moskau vor, lädt uns zu einem Gläschen Vodka ein. Um nicht zurückzustehen, spendiert einer unserer Herren eine Flasche Whiskey, die als Gastgeschenk für Voronezh gedacht war. Nun beginnt ein edler Wettstreit. Jede Seite lädt die andere zu einer Runde ein und zu jedem Glas muss natürlich ein blumiger Trinkspruch gebracht werden. Ich habe ganz schön mit der Dolmetscherei zu tun, aber das ist ein guter Grund nicht Mittrinken zu müssen, es wäre ja ein Verbrechen an Kultur und Tradition, würde eine angesäuselte Dolmetscherin die wundervollen Reden nicht in voller Schönheit wiedergeben. Unsere Herren sind bald so animiert, dass sie noch eine weitere Flasche herausrücken. Die Stimmung ist phantastisch. Mit großer innerer Bewegung stellt man fest, dass die Deutschen und die Russen schon immer in ihrer Seele eine tiefe Zuneigung für einander empfunden hätten, ach, und Heinrich Heine und Goethe, ja, und Dostojewsky und Tolstoi, aber vor allem die Musik! - das Stichwort für einen bärtigen Bauingenieur aus Tula, die Lenski-Arie aus Evgenij Onegin anzustimmen.
Bald singen alle und die Bitte einer jungen Mutter, doch an die Kinder zu denken, ein bisschen leiser... wird ignoriert.
Weit nach Mitternacht machen sich erste Erschöpfungserscheinungen bemerkbar. Die Damen haben sich bereits seit längerem zurückgezogen, nur ich muss noch durchhalten. Schließlich kann ich meine Delegation nicht im Stich lassen. Aber irgendwann ist es genug und ich bestehe auf Nachtruhe, der kommende Tag wird anstrengend. Natürlich geht man nicht ohne ein letztes Schlückchen „na passaschok“ (auf den Weg) auseinander, die Flaschen werden noch einmal ausgewrungen, man versichert sich in schwankender Umarmung zum letzten Mal der gegenseitigen Hochachtung.

Endlich Ruhe! Meine stark und ungewohnt alkoholisierten Abteilgenossen fallen sofort in einen laut schnarchenden Tiefschlaf. Ich finde keine Ruhe, die Hitze ist unerträglich und gegen sechs in der Frühe schleiche ich mich zur Toilette in der Hoffnung, die erste zu sein. Die russischen Toiletten sind für ahnungslose Westler ein Schock. Die Russen selbst geben zu, dass sie seit dem Überfall der tataro-mongolischen Horden im 13. Jahrhundert einen nationalen Missstand darstellen, ohne allerdings etwas dagegen zu unternehmen. Zu meiner Enttäuschung hat sich am Waggonende bereits eine Gruppe Wartender versammelt. Sie unterhalten sich leise. Alle haben Plastikbeutel über die Füße gezogen, zum Schutz vor Urinpfützen. Auch ich hole meine Tüten hervor. Eine junge Frau mit einem prachtvollen blonden Zopf erzählt mit schwärmerischer Stimme, wie gern sie sich an die Zeit erinnere, die sie mit ihrem Mann, der in Potsdam stationiert war, in Deutschland verbracht habe. Die Toiletten seien dort steril wie Operationssäle.
Zurück im Abteil wecke ich meine Begleiter und versorge sie mit Plastiktüten. Olga Ivanovnas Goldkrone blinkt uns „Guten Morgen“ zu. Ihre Stimme ist jetzt autoritär: Wäsche abziehen und am Gangende in die Wäschekiste! Dann aber bringt sie Tee und freut sich über die Postkarte vom Kölner Dom. Wir müssen alle einen Gruß für sie darauf schreiben.
Noch 1 Stunde bis Voronezh. Langsam füllt sich der Gang mit Gepäckstücken. Auch wir haben unsere Koffer zusammengestellt. Meine armen Experten haben bleiche, gedunsene Gesichter und einen stieren Blick, während unsere sowjetischen Trinkgenossen, wie ein schöner russischer Vergleich sagt, frisch wie junge Gürkchen aussehen.
Die Außenbezirke von Voronezh ziehen an uns vorüber. Endlose Plattenbausiedlungen, dazwischen Heizkraftwerke und viele Birken. Der Zug fährt jetzt ganz langsam, von allen Seiten laufen Schienenstränge zusammen, wir rollen in den Voronezher Hauptbahnhof ein. Das Gedrängel beim Aussteigen übertrifft fast noch das Geschiebe beim Einsteigen. Die junge Frau mit dem Zopf lächelt mich an und sagt: wir Russen können nicht ohne Drängeln, die ganze Nation wird von der Sorge gequält, etwas zu verpassen.
Auf dem Bahnsteig erwartet uns ein Empfangskomitee der Stadtverwaltung und des Rentenfonds. Scheinheilig lächelnd fragen sie, ob wir eine erholsame Reise gehabt hätten - als ob die noch nie mit den Sowjetischen Eisenbahnen gefahren wären! Sie laden uns zum Arbeitsfrühstück ein. Der Leiter unserer Delegation raunt uns zu: Jetzt nur nicht schlapp machen!
Ich hoffe, wir haben unserem Land keine Schande gemacht.


Zitat

Zitat 68(228):
Je korrupter der Staat ist, desto mehr Gesetze braucht er.
Publius C. Tacitus


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