Du musst nur entscheiden, was Du mit der Zeit anfangen willst, die Dir gegeben ist ...
Optimiert für IE8.x und FF3.x
Auflösung mind. 1024*768 Pixel
Ein blasser Lichtstrahl zwängt sich durch den Spalt des Vorhangs, streichelt mein Gesicht und legt sich über die Bettdecke, als wollte er noch ein wenig ausruhen. Ich jedoch sitze aufrecht und hellwach im Nachthemd auf dem blütenweiß bezogenen Bett. Die Wände und Möbel meines Zimmers sind in weiches Dämmergrau getaucht, der Fußboden verschwimmt wie im Nebel. Mir ist, als schwebte ich in meinem Bett über einer Wolkenbank. Gerade haben die Vögel angefangen zu zwitschern; es wird gegen vier Uhr sein. Noch ist viel Zeit, bis die Schwester kommt. Mein Herz birst vor Jubel. Endlich, endlich ist es soweit! Auch ich begrüße wie die Vögel den neuen Tag.
Bevor ich in den Operationsraum gerollt werde, erhalte ich ein Beruhigungsmittel. Ich werde es brauchen - trunken vor Glück, wie ich bin. Damit ich nicht auf dem Weg dorthin die Flure durchtanze und die mich erwartenden Grünkittel abküsse.
Nein, ich habe keine Angst, aber er. Denn er wird heute sterben. Der Tod sei nur ein Übergang in eine andere Form des Lebens, hatte ich ihm gesagt, wie eine Geburt, und "durch die sind wir doch alle schon einmal hindurchgegangen. Wir erinnern uns nicht mehr daran, weil wir sie nicht bewusst erlebt haben. Aber tief in uns wissen wir etwas davon - und vielleicht erinnern wir uns angesichts des Todes an diese vertraute Erfahrung, die uns hilft zu sterben."
Er glaubte mir nicht. Und die Frage, ob das Sterben womöglich leichter sei, als wir befürchten, schien ihn nicht zu interessieren. Schließlich stirbt er bereits seit Jahren. Ihm graute nur vor seinem Tod - und dass danach nichts kam.
"Aus, vorbei, für immer", sagte er. "Für dich mag es zutreffen, das mit dem neuen Leben nach dem Tod. Bedenke, nach meinem Tod! Aber für mich - ist er endgültig. Und daran bist du schuld!"
"Es tut mir leid, ich kann nicht anders, das weißt du doch", rechtfertigte ich mich.
"Das tut dir also leid! Warum belügst du mich? Schon vor langer Zeit hast du beschlossen, mich wegsterben zu lassen, und alles dafür getan. Immer tiefer stößt du mich ins Dunkel - und heute willst du mir den Todesstoß versetzen!"
"Du wirst in meinem Herzen weiterleben", log ich, ihm zum falschen Trost. Meine Stimme war ins Falsett umgekippt. Ich räusperte mich und zupfte an meinem Kleid.
"Du heimtückische Schlange!", brach es aus ihm heraus. "Als wenn du mich jemals geliebt hättest! Du hasst mich! Gib es zu und hör auf damit, mich anzulügen. Was du fühlst, das fühle auch ich - du kannst mich nicht hintergehen, also tue es besonders jetzt nicht, kurz vor meiner Todesstunde!"
Mich konnte er ebenfalls nicht täuschen. Zwar hatte er den Kampf gegen mich längst aufgegeben, doch mit seinem Tod wollte er sich immer noch nicht abfinden. Ein letztes Mal bäumte er sich gegen ihn auf.
"Ja, ich gebe es zu", erwiderte ich und starrte auf den Fußboden. "Du bist für mich wie ein Dämon gewesen, der sich meines Körpers bemächtigt hat." Ich schaute ihm in die Augen. Mir war, als blickte ich in den Spiegel. Wir besaßen die gleichen Augen, das gleiche Gesicht. Sein Anblick schmerzte mich. Das hatte ich nicht erwartet. "Vielleicht ändern sich meine Gefühle für dich, später ... danach ...", sagte ich. "In dem Fall, das verspreche ich dir, stirbst du nicht endgültig, sondern nur in eine neue Art von Sein hinein. Dann lebst du weiter in meiner Seele und ich werde dich ... als einen Teil von mir ... annehmen, wenn nicht sogar lieben können."
Er sah mich an, als hätte ich ihm eine Tür geöffnet. "Ich habe Angst … Ich will dich nicht verlassen, aber mit dir leben heißt für mich nur langsam und qualvoll sterben. Das halte ich nicht mehr aus."
"Lass mich los, dann werden das Sterben und der Tod leichter für dich sein. Bitte, lass mich los."
Er schloss die Augen und schwieg. Unter seinen Wimpern quollen Tränen hervor.
"Es kann nur besser werden", sagte ich leise. "Für beide, auch für dich."
"Vielleicht …" Ich fühlte, wie er mit sich kämpfte. "Dann soll es wohl so sein." Er lächelte mich liebevoll an, strich mir über die Haare und gab mir einen Kuss auf die Wange. "Weißt du", flüsterte er mir ins Ohr, "ich bin nicht nur dein Feind gewesen. Das solltest du endlich erkennen."
Sein Bild verblasste und er löste sich vor meinen Augen auf.
Als hätte das Licht den Vorhang in der Mitte zerrissen, schießt es mir entgegen und blendet mich. Ich reiße den Vorhang auf und öffne die Fenster sperrangelweit. Wie ein breiter Fluss strömt die Helligkeit in mein Zimmer. Weiß schimmern die Wände, der Tisch, die Stühle, mein Bett, der Nachttisch und das Waschbecken. Auch ich ganz in Weiß. Mit weit ausgestreckten Armen bade ich in Licht und atme die frische Morgenluft ein. Welch ein Glücksgefühl durchflutet mich! Heute also. Lang ersehnter Tag. Tag der Erfüllung meines größten Wunsches! Wenn ich dieses Zimmer durch jene weiße Tür verlasse, wird mein Lebenstraum wahr!
Ich habe mir etwas erlitten und erkämpft, was den meisten Menschen dermaßen selbstverständlich ist, dass sie es gar nicht wahrnehmen: Ihre Körper und ihre Seelen entsprechen sich. Mein Körper und meine Seele widersprechen sich. Radikal. Er passt nicht zu ihr, er ist ein Fremdkörper. Meine Hände zittern ... beruhige dich, Friederike, es wird alles gut. Endlich wird alles gut. Warum nenne ich mich Friederike?
"Friederike" hatten mich die Jungs aus meiner Bande gerufen. Ich war das einzige Mädchen, und ich wollte wie sie sein. Längst hatte ich mir die blonden Locken, die meine Mutter so liebte, mit der Wick-Wack-Maschine kurz geschoren, doch nie nannten sie mich Fritz. Jede Mutprobe habe ich bestanden, bin vom Balkon eines Rohbaus aus dem ersten Stock in den Sandhaufen gesprungen, habe eklige Regenwürmer gegessen, die von der fetten Sorte ... In einer schwülen Augustnacht, kurz vor der Geisterstunde, habe ich mich aus dem Fenster der elterlichen Wohnung gehangelt und mich als einzige getraut, über die Friedhofsmauer zu klettern, und mich bäuchlings auf einen warmen, moosigen Grabhügel gelegt. Tief sog ich den erdigen Duft ein und fühlte mich geborgen. Die Turmuhr schlug zwölf und ich wusste, es waren bloß die Jungs hinter der Mauer, die mir Angst einjagen wollten mit ihren Käuzchenrufen und ihrem Gespenstergejaule. Ich fand mich nicht mutig, aber sie werden mich mutig finden, dachte ich und hielt es vor Freude kaum noch aus, denn ich war sicher, dass sie mich nun endlich als Jungen akzeptieren mussten.
"Friederike", riefen sie. "Friederike, die Stunde ist vorbei!"
Ich vergrub mein Gesicht im weichen Moos und weinte, weinte mich in den Schlaf.
Nicht nur sie, auch die anderen Kinder ließen sich durch den Augenschein nicht beirren. Ich war ein Mädchen. Nur dass es die Erwachsenen, besonders mein Vater, nicht wahrhaben wollten - und lange Zeit auch ich nicht. Ihm zuliebe. Vor allem ihm zuliebe. Nein, das stimmt nicht ganz. Ebenso wegen mir, weil er nicht davon abließ, den Jungen in mich hineinzuprügeln. Mit einem Stück Gartenschlauch, mit der Hundeleine. Und so strengte ich mich an, Fritz zu sein, damit er endlich aufhörte, mich zu schlagen.
Das alles liegt nun hinter mir. Ich atme tief durch und fühle mich befreit.
"Wie lange dauert das denn noch?", hatte ich vor einigen Monaten meine Freundinnen gefragt, weil meine Brüste nicht schnell genug wachsen wollten. Obwohl ich mir zusätzliche Hormone auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte, war ich noch nicht zufrieden mit dem, was man bereits sehen konnte.
"Das dauert Jahre!", klärte mich Erika auf. "Wattebäusche in den BH ... so habe ich damals nachgeholfen. War nur peinlich, als mir mal einer rausgefallen ist. Du hast deine Titte verloren, hat mir ein Junge hinterhergerufen und sie mir dann in die Hand gedrückt ... das ist ausgerechnet mein heimlicher Schwarm gewesen ..."
"Ich erinnere mich kaum noch, meine Pubertät ist schon arg lange her", sagte Anne. "Da war ich vierzehn und nun bin ich bereits vierzig wie du. Kriegst du jetzt eigentlich ... auch Pickel?", fragte sie mit ironischem Unterton.
"Stimmbruch", hätte ich fast gesagt, aber das war falsch ausgedrückt und ich versuchte, Anne die Kürzung meiner Stimmbänder zu erklären. "Sie haben mich gestimmt wie eine Geige." Do - Re - Mi - Fa ... Bei "Re" gab ich ihnen ein Zeichen, dass mir meine Stimme so gefallen könnte. "Mi" wäre mir zu piepsig gewesen. Besonders bei meiner Größe.
Immerhin bin ich einen Meter Fünfundneunzig. Ohne Stöckelschuhe.
"Boh eh, ist die groß!", hatten eines Abends, als ich mit Anne auf der Piste war, zwei mir entgegenkommende Männer gerufen.
"Was sind denn das für Idioten!", regte sich Anne auf und hätte sie am liebsten verprügelt. Sie ist eine kleine, zarte Person, doch wenn sie in Rage ist, wächst sie über sich hinaus und gebietet über Kräfte wie der junge Muhammed Ali. Glaubt sie jedenfalls und Glaube soll ja Berge versetzen.
"Nein, nein, lass die Jungs heil", lachte ich. "Das ist doch wunderbar! Sie haben SIE gesagt!"
Auf welche Weise man sich seine Bestätigung als Frau zusammensucht ...
Zu Karneval hatte mich ein Mann in meine Brust gekniffen. Nicht etwa in Wattebäusche, in meine echte. Allerdings bin ich mir nach wie vor nicht schlüssig, ob ich das als Kompliment auffassen soll oder als Unverschämtheit.
"Du blondes Gift", zischelte er mir zu. Immerhin ...
Nun ist es vollends hell geworden, die Sonne lässt das Zimmer erstrahlen und wärmt, nein, durchglüht meinen Körper bis in die Fingerspitzen hinein. Ich höre Schritte und ein Klappern auf dem Flur und verlasse meinen Fensterplatz. Gleich kommt die Schwester. Ein Teil meiner selbst stirbt, ein anderer wird geboren, endlich ganz als Frau geboren. Deutlicher als bisher, werde ich auch nach außen hin sichtbar die sein, die ich von Anbeginn gewesen bin. Eindeutig. Auch im Bikini. Ich könnte nach langer Pause wieder schwimmen gehen … Ich war nie ein Mann. Ich habe nur so ausgesehen. Und selbst das nicht wirklich. Die Kinder haben sich nicht täuschen lassen und meine weibliche Seele erkannt. Damals zu meinem Schmerz. Heute zu meiner Freude.
Erwartungsvoll throne ich im gleißend hellen Zimmer auf meinem Bett, in mein Nachtgewand gehüllt, das ich mir extra für diesen großen Augenblick besorgt habe. Ein Spitzentraum in Lilienweiß. Jungfräulich. Wie eine Braut sehe ich aus.
"Werde ich dich entjungfern müssen?", hat mich meine Frau gefragt und mich frech und verführerisch angelacht. Ich habe verlegen gekichert und bin rot angelaufen wie meine kleine Tochter, als sie unverhofft ihrem angehimmelten Star aus der Boygroup gegenüberstand. Was natürlich ich für sie arrangiert hatte. Als Drachenfutter, damit sie mich endlich nicht mehr Papa nennt, sondern Daria.
Ich durfte mir einen neuen Namen aussuchen und habe mich für Daria entschieden. Er bedeutet "die Mächtige, die Erhabene" und: "DU WIRST ES SCHAFFEN". Ja, ich schaffe es! Ich habe schon mehr überstanden als so eine Operation und gelernt, dass jedes große Risiko auch eine große Chance bereithält - für den, der sie erkennt.
Ich höre Schritte ... sie nähern sich meiner Tür ... mein Herz pocht ... Die Schwester tritt ein und lächelt mich an. Es ist soweit.
Zitat 184(228):Ein Verbrechen muss durch ein Verbrechen vertuscht werden.
Lucius Annaeus Seneca
© pieces-of-poetry.com